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Copyright © Frankfurter Rundschau. Archived transcript of April 25, 2003 article by Janko Röttgers. An English translation is available.
Dem Kinohelden "Daredevil" auf der Spur: Eine Software für Blinde setzt Bilder in akustische Signale um.
Von Janko Röttgers.
Matt Murdock ist seit seiner Kindheit blind. Er verkörpert den Prototypen des ehrlichen Anwalts, lehnt lukrative Aufträge ab und kämpft lieber pro bono für das Recht der Armen und Schwachen. Nachts jedoch wird aus Murdock Daredevil - der Superheld ohne Angst. Seine Blindheit kompensiert er mit einem extrem ausgebildeten Hörsinn. Daredevil sieht im wahrsten Sinne des Wortes, was er hört. Das ist in groben Zügen die Geschichte des Superhelden-Epos Daredevil, das derzeit im Kino läuft. Der blinde Anwalt wird von Ben Affleck verkörpert.
Die akustischen Sinneseindrücke wirken wie eine futuristische Mischung aus Computeranimationen und Nachtsichtbildern. Glaubt man dem niederländischen Ingenieur Peter Meijer, haben solche Sinneseindrücke nichts mit Superhelden- Magie zu tun. Meijer hat ein Computerprogramm entwickelt, dass jedem Blinden akustisches Sehen ermöglichen soll.
Das "The vOICe" genannte Programm bietet Meijer kostenlos im Netz an. Wer damit seine Umwelt erforschen will, braucht einen tragbaren Computer und eine einfache Webcam. Einige Nutzer haben sich eine Profi-Ausrüstung zugelegt: Das Notebook wird im Rucksack verstaut, die Kamera ist in der Brille versteckt, die Software wird über ein Headset-Mikrofon bedient. Derart ausgerüstet, können sie das System in der Öffentlichkeit nutzen, ohne wie ein Cyborg auszusehen. Andere verwenden das Programm lediglich am heimischen Computer, um etwa Börsenkurs-Diagramme klanglich zu veranschaulichen.
Egal ob Webcam oder Börsenkurs: "The vOICe" arbeitet immer nach den gleichen Prinzipien, um visuelle Eindrücke in akustische zu übersetzen. Dabei wird das Bild von links nach rechts abgetastet und in einen mehrstimmigen Synthesizer-Klang verwandelt. Orten lässt sich ein Gegenstand über die Faktoren Zeit und Tonhöhe, seine Helligkeit wird von der Lautstärke des Klangs repräsentiert. Eine simple waagerechte weiße Linie vor einem schwarzen Hintergrund wird so zu einem gleich bleibenden Ton, komplexe Bilder klingen dagegen wie experimentelle elektronische Musik der 70er Jahre.
Wer so was zum ersten Mal hört, kann es sich
schwer vorstellen, dass "The vOICe" Blinden
tatsächlich zu einer besseren Orientierung
verhelfen kann. "Einige einfache Nutzungsformen
lassen sich in Minuten oder Stunden lernen", sagt
Meijer. Wer damit seinen Sehsinn komplett
ersetzen will, müsse lange trainieren: "Ich
vergleiche die Mühen des Lernprozesses oft mit
dem Lernen einer fremden Sprache", erläutert
Meijer, um sofort zu ergänzen: "Selbst dieser
Vergleich hinkt womöglich."
Noch sei viel zu wenig darüber bekannt, wie das
Hirn visuelle Informationen verarbeitet. Meijer
begreift seine Software deshalb als eine Art
neurowissenschaftlichen Feldversuch. Ein Versuch,
der für seine Teilnehmer weit weniger riskant ist
als andere Methoden. "Statt Elektroden in die
Netzhaut, in Sehnerven oder gar ins Sehzentrum
des Hirns zu verpflanzen, erfordert ,The vOICe'
keine Operation", sagt Meijer. Dabei verspreche
es theoretisch sogar eine bessere Bildqualität
als die noch immer primitiven Implantate.
Auf einer an Meijers Website angeschlossenen Mailingliste tauschen Nutzer des Programms Erfahrungen aus. Einer von ihnen schreibt dort, zum ersten Mal Bilder seiner Familie und seiner Hunde gesehen zu haben: "Für mich ist diese veränderte Welt sehr neu, aber es ist herrlich, aufregend und macht mich glücklich. Ich fühle mich, als würde ich eine Art Kindheits-Wunder bestaunen." Andere berichten, nach einer Lernphase Schwarzweiß-Bilder wahrgenommen zu haben. Auch von grünstichigen Wahrnehmungen ist die Rede. Manch einer beschreibt, nach einigen Monaten erste Eindrücke von der Tiefe eines Raums zu bekommen.
Kann mit "The vOICe" also tatsächlich jeder eine
Art Daredevil-Sehsinn entwickeln? Was wie
Science-Fiction klingt, ist für den
kalifornischen Philosophen und
Neurowissenschaftler Alva Noë durchaus im Bereich
des Möglichen. "Wir können auch ohne Augen und
Sehzentrum sehen", zeigt er sich überzeugt. Zwar
sei wissenschaftlich noch umstritten, warum das
Ersetzen einer Sinnesleitung durch eine andere
funktioniert. Doch Noë ist sich sicher: "Es ist
in beträchtlichem Maße möglich."
Spannend an "The vOICe" findet Alva Noë, dass es
Fragen über die Funktionsweise der natürlichen
Sehfähigkeit aufwirft. "Interessanterweise
arbeiten die Teile unseres Hirns, die für Sehen,
Tasten, Hören und so weiter zuständig sind,
praktisch identisch. Warum sorgt also einiges
davon für Bilder, anderes für Klänge oder taktile
Wahrnehmungen?" Noës Theorie zufolge sorgen
nicht allein die Sehnerven dafür, dass ihre
Informationen als Bilder verarbeitet werden.
Wichtig sei der Kontext, in dem die Wahrnehmung
entstehe, wie die damit verbundenen Bewegungen.
Auch die Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ist den Zusammenhängen auf der Spur. Im Auftrag des Instituts für Experimentelle Psychologie testeten Menschen ohne Sehbehinderung drei Wochen lang das System. Dabei wurde geprüft, ob das System messbare Veränderungen im Hirn bringt.
Bei allem Optimismus wollen jedoch weder Peter Meijer noch Alva Noë falsche Hoffnungen wecken. "Unsere Körper sind außergewöhnlich präzise Instrumente. Die Evolution hat uns außerordentlich raffinierte Mittel beschert, die Welt um uns wahrzunehmen", sagt Noë. "Künstliche Methoden der Sinneswahrnehmung und -ersetzung sind im Vergleich dazu meist extrem simpel." Mit anderen Worten: Für übersinnliche Kräfte müssen wir weiterhin Hollywoods Traumfabriken vertrauen.
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